Kunde = König?

Hat der Kunde immer Recht? Auch, wenn er nicht Recht hat?

Aus gegebenem Anlass musste ich mich vor Kurzem mit dieser Frage auseinandersetzen. Ein Kunde hatte eine von mir angefertigte Übersetzung bemängelt, und zwar ziemlich heftig. Es war die Rede von einer “Wort-für-Wort-Übersetzung” und zu vielen Wiederholungen, und dass der Kunde die gesamte Übersetzung überarbeiten musste.

Der erste Gedanke, der mir in diesem Moment durch den Kopf ging war natürlich: Nein, das kann nicht sein, ich liefere nur hervorragende Arbeit. Der zweite Gedanke war dann schon etwas rationaler: Jeder macht mal Fehler, auch ich – aber bei diesem Text kann ich mir eine Wort-für-Wort-Übersetzung überhaupt nicht vorstellen.

Ich erhielt die überarbeitete Version und verglich sie mit meiner Übersetzung. Das Ergebnis:
– Die meisten Änderungen basierten rein auf Stil. Der oder die andere(n) Übersetzer, die bereits für diesen Kunden übersetzt hatten, haben (natürlich) ihren eigenen Stil, und den konnte ich schlecht nachmachen ohne mich intensivst in die Materie einzuarbeiten. (Deshalb sollte nach Möglichkeit auch immer derselbe Übersetzer genommen werden.)
– Der Anmerkung der Wort-für-Wort-Übersetzung konnte ich lediglich für die erste Seite (Titelseite) zustimmen (v.a aufgrund der Veränderungen seitens des Kunden, siehe letzter Punkt).
– Einige Änderungen waren sogenannte “Verschlimmbesserungen”, da grammatikalisch falsch oder „zu Deutsch“, v.a. was die Satzstellung und Satzlänge betrifft (genau der Punkt, der mir angekreidet wurde). Auch wurde viel Passiv verwendet, was im Englischen schlechter Stil ist und ich deshalb geändert hatte.
– Bezüglich der vielen Wiederholungen ergab ein Vergleich, dass zum einen der Originaltext voller Wiederholungen war, die man auch nur bedingt mit Synonymen übersetzen konnte, und zum anderen die “verbesserten” Ersetzungen genauso viele Wiederholungen ergaben, nur anders verteilt.
– Die neue Version enthielt außerdem Text, der nicht in dem mir vorliegenden Original stand.

Ich bin immer offen für Kritik und freue mich über jedes Feedback seitens des Kunden – solange es gerechtfertigt ist. Allerdings sollte der Kunde sicher sein, dass es sich tatsächlich um einen Fehler handelt und wenn möglich Lösungen vorschlagen. 

Die folgenden Punkte sollen ein Anstoß sein, Missverständnisse und schlechte Beziehungen zu vermeiden:
– Oft wird die Übersetzung beim Kunden nicht von einem Muttersprachler oder Mitarbeiter mit Sprachkenntnissen auf muttersprachlichem Niveau geprüft, was leider zu den oben genannten Verschlimmbesserungen führt, v.a. was die Satzstellung und Grammatik betrifft. Fragen Sie im Zweifelsfall lieber nach, schließlich sollte man davon ausgehen, dass der Übersetzer sein Handwerk versteht und weiß, was und warum er es tut!
– Ein anderer Stil (und jeder Übersetzer schreibt anders) ist kein Fehler, sondern eben nur anders. Geben Sie fünf Übersetzern den selben Text und Sie werden fünf verschiedene Übersetzungen erhalten, von denen (hoffentlich, wenn es Profis sind) alle richtig sind.
– Ein Glossar ist Gold wert! Das gilt nicht nur für Produkt-spezifische Fachausdrücke, sondern auch für Unternehmens-spezifische Termini. Die meisten Wörter haben nicht nur ein Äquivalent in der anderen Sprache, deshalb ist es enorm hilfreich, wenn der Kunde eine Liste der erlaubten und der nicht-erlaubten Ausdrücke hat. V.a. wenn nicht immer der selbe Übersetzer zur Verfügung steht, sorgt das für einen einheitlicheren Stil.
– Kommunikation ist kein lästiges Übel, sondern absolut notwendig, v.a. wenn es zu unterschiedlichen Meinungen über die Qualität kommt. Einfach Mängel feststellen und die Rechnung nicht oder nicht vollständig zahlen zu wollen, ist keine Lösung. Zudem hat jeder Übersetzer das Recht auf Mängelbeseitigung bevor es zu solch drastischen Schritten kommt. Wer weiß, vielleicht liegt nur ein Missverständnis vor, das sich in drei Minuten geklärt hat? Lieber einmal zu viel gefragt, als eine gute Geschäftsbeziehung verdorben.

Was aus meinem Kunden geworden ist? Hoffentlich ein schlauerer als vorher… 😉


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